Blicke in die Kristallkugel
Wo stehen wir heute? Lassen sich in den Monaten vor der Standortwahl Tendenzen erkennen, wohin die Reise gehen könnte? So gebannt wir auch in die Glaskugel schauen, es will sich kein klares Bild abzeichnen. Überraschungen bleiben möglich.
Immerhin hat die Nagra inzwischen durchblicken lassen, dass sie ein Kombilager vorschlagen werde – wahrscheinlich, auch wenn die Würfel noch nicht gefallen seien. Alle nuklearen Abfälle der Schweiz also würden somit an einem Ort eingelagert werden, sowohl die schwach- und mittelaktiven Abfälle (SMA) als auch die stark wärmeentwickelnden hochaktiven Abfälle (HAA). Und dieser Ort – das ist allerdings für uns südbadische Nachbarn schon lange klar – wird in unmittelbarer Nähe zu Deutschland sein.
Warum haben wir diese Formulierung hervorgehoben? Weil sie, erstens, die Art und Qualität unsrer Nähe zum Atommüll der Schweiz benennt. Und zweitens, weil sie nicht von uns stammt, sondern – von der Landesregierung der Schweiz höchstselbst! Der Bundesrat bezeichnet in den Ergebnisberichten des Sachplans geologische Tiefenlager (SgT) namentlich die Kantone und Nachbarländer „in unmittelbarer Nähe des Standortgebiets“, und er trifft diese Feststellung für alle drei Gebiete, die in der Auswahl verblieben sind: Zürich Nordost, Nördlich Lägern und Jura Ost. Was heißt nun unmittelbare Nähe? Die Wortwahl des Bundesrats ist im Sachplan nicht näher erläutert, gemeinhin darf unmittelbare Nähe als direkte Nachbarschaft verstanden werden. Näher als in unmittelbarer Nähe kann etwas ja schwerlich sein. Eine Unschärfe besteht eher auf der anderen Seite: In welcher Distanz befände man sich nicht mehr in unmittelbarer Nähe, sondern einfach nur nah oder nicht einmal mehr nah? Lassen sich solche Qualitäten von Nähe (und Ferne) auf einer Kilometerskala angeben? Es kommt wohl drauf an, worum es geht. Hier reden wir über radioaktive Abfälle. Da mehrere der ursprünglich sechs Standortgebiete der Schweiz in Grenznähe lagen, erlauben die Umstände immerhin eine nähere Auslegung: Die Standortgebiete Zürich Nordost und Nördlich Lägern reichen bis zum Rhein. Jura Ost hingegen ist einige Kilometer von der Landesgrenze entfernt, für den Bundesrat aber immer noch in unmittelbarer Nähe zu Deutschland. Hier ist ein Konsens festzustellen: Deutschland sieht sich von allen drei Standortgebieten betroffen und die Schweiz beteiligt die deutschen Gemeinden und Landkreise von Beginn an im Verfahren. Es wäre also müßig, eine Distanz in Kilometern festzulegen, die eine bloße Nähe oder gar eine fernere von einer unmittelbaren Nähe unterschiede.
Fazit: Welche Standorte auch immer die Nagra wählen wird, alle sind sehr, sehr nah an der Grenze zu Deutschland. Gleichwohl zeigt ein Blick auf die Landkarte, dass unmittelbare Nähe nicht ein und dasselbe ist. Es gibt Variationen:
Welche Abstände kann ein Schweizer Tiefenlager im konkreten Fall aufweisen? Wir geben hier eine Übersicht über die Distanzen. Dabei ist zwischen dem Lager oben und unten zu unterscheiden. Unten: Das sind die Lagerbereiche für die dauerhafte Deponierung der radioaktiven Abfälle. Hier geben wir die minimalen und die maximalen Distanzen zur Landesgrenze an – sie sind allerdings als Prognosen zu verstehen, denn es ist ja noch nicht bekannt, wo die Nagra diese Bereiche genau positionieren wird. Für die minimale Distanz haben wir die Entfernung von der Grenze bis zum Haupterschließungsbereich (HEB) ausgemessen, für die maximale Distanz die Entfernung bis zum grenzfernsten Rand des seit Etappe 1 ausgewiesenen geologischen Standortgebiets. Oben: Hier werden die Abstände der Oberflächenanlagen (OFA) zur Grenze angegeben; für Jura Ost und Nördlich Lägern sind diese Areale seit Etappe 2 bekannt, hingegen wurde der OFA-Standort in Zürich Nordost erst Ende 2021 festgelegt – da aktuell für den beschlossenen neuen Standort ZNO-9 noch keine konkretisierte Planung vorliegt, kann hier nur eine ungefähre Distanz zur Grenze angegeben werden. Für alle drei Regionen gilt außerdem, dass weitere notwendige Anlagen der Oberflächeninfrastruktur auch geringere Entfernungen zu Deutschland aufweisen können, so etwa die Betriebszugangsanlagen oder Stationen für die Umverladung der Abfälle bei Antransport per Bahn.
Hier also die Übersicht der möglichen Abstände der Tiefenlager zur deutschen Grenze für die drei Standortregionen (von West nach Ost):
Jura Ost
Abstand OFA: ca. 8 km
Abstand Lagerbereiche: min. 9 – max. 11,4 km
Nördlich Lägern
Abstand OFA: ca. 2,3 km
Abstand Lagerbereiche: min. 2,3 – max. 5,2 km
Zürich Nordost
Abstand OFA: ca. 0,8 km (plus-minus 100 m)
Abstand Lagerbereiche: min. 0,5 – max. 6,7 km
In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem es unmodern geworden ist, Tatsachen von Wertungen sauber zu trennen, scheint dieser abschließende Hinweis nicht unnötig zu sein: Die angegebenen Distanzen sind als Fakten zu verstehen, die der Überprüfung offenstehen. Sie sind anhand öffentlich zugänglicher Daten nach bestem Wissen ausgemessen und auf hundert Meter gerundet. Wir verbinden damit keine Wertungen wie beispielsweise: Je größer die Entfernung, desto besser. Nein, das beste Tiefenlager wird das mit der besten Sicherheitsprognose sein. Genau darauf sind wir deutsche Nachbarn gespannt.