DKST – Vor der Standortwahl
Wo genau sollen die radioaktiven Abfälle aus den schweizerischen Atomkraftwerken entsorgt werden? Welcher Bereich im Opalinuston im Norden des Landes ist der sicherste Ort der Schweiz für ein Endlager? Und werden an diesem Ort auch die schwach- und mittelaktiven Abfälle (SMA) eingelagert werden können? Oder braucht es dafür ein eigenes zweites Tiefenlager?
Mit ihrer Standortwahl, die die Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) 2022 treffen und bekanntgeben wird, werden wir Antworten auf all diese Fragen bekommen. Genauso spannend wie das Wo und Wie werden aber die Gründe sein, die den Entscheidungen und Vorschlägen der Nagra zugrunde liegen. Welche geowissenschaftlichen Erkenntnisse geben den Ausschlag für die Wahl eines geologischen Standortgebiets? Welche ortsspezifischen Eigenschaften des Wirtsgesteins konnten durch die Untersuchungen, insbesondere die 3D-Seismik über die gesamte Fläche der Gebiete sowie die tiefen Sondierbohrungen an ausgewählten Stellen im Randbereich der ungestörten Areale des Opalinustons, erhoben werden, welche Unterschiede hinsichtlich Dichtigkeit und Festigkeit der Gesteinsschichten lassen sich nachweisen? Und wie sehen die daraus ableitbaren Sicherheitsprofile der drei verbliebenen Standortgebiete aus? Ergeben sich Unterschiede in der bautechnischen Machbarkeit? Lässt sich der sicherste Ort der Schweiz klar, widerspruchsfrei und nachvollziehbar bestimmen oder ist das Ergebnis der Standortsuche letztlich das Produkt einer komplexen Abwägung von Vor- und Nachteilen, über deren Bewertungen und Gewichtungen im Einzelnen sich trefflich streiten lässt?
Für uns als deutsche Nachbarn ist schon jetzt und schon längst klar, dass die Schweiz in unsrer unmittelbaren Nähe ihre nukleare Abfälle lagern wird – und zwar alle. Aber wie nah konkret: Das werden wir 2022 erfahren. Das eigentliche Endlager unter der Erde: Wird es ein, zwei, fünf oder zehn Kilometer von der Landesgrenze und vom Rhein entfernt sein? Und wie nah werden die oberirdischen Anlagenteile liegen, in denen mit den Abfällen umgegangen wird – achthundert Meter? Zwei Kilometer? Was bedeutet es für uns, die ganzen atomaren Überreste eines Landes hier bei uns zu haben? Welchen Unterschied machen solche Entfernungen? Ist weiter weg besser für uns? Beziehungsweise: Wie weit weg wäre weit genug? Nutzt die Schweiz vorhandene räumliche Flexibilitäten bei der Wahl von Standorten, die im Falle der oberirdischen Anlagen zweifellos bestehen? Oder hält sie unbeirrt an Zwischenergebnissen – faktischen Vorentscheidungen – hinsichtlich der Oberflächeninfrastrukturen fest, die sich wenig zu sorgen scheinen um uns Nachbarn und um gemeinsam genutzte Schutzgüter wie Trinkwasser (weil es kein Grund zur Sorge gebe, wie man sagt, da man nichts genehmigen und bauen werde, was nicht sicher sei, d.h. den vorgegebenen Sicherheitskriterien nicht genüge)?
Die Standortwahl der Nagra kann auch zum Stresstest für die regionale Partizipation geraten. Durch sie werden bisher potentielle Standortregionen in Verlierer und Gewinner geschieden. Gewiss sind hier verschiedene Szenarien denkbar, jedoch kaum in aller Konsequenz vorherzusagen. Was wird etwa sein, wenn die Region, die Endlagerstandort wird, die Frage stellt: Warum wir, warum nicht die? Gibt es dann beruhigende Antworten, zum Beispiel dank wissenschaftsbasierter, nachvollziehbarer Begründungen, die die Nagra liefern kann? Oder finden einander widersprechende Interessen Angriffspunkte in den Entscheidungen der Nagra, an denen sich ein politischer Meinungsstreit zu entzünden vermag? Wenn sich also eine Region, die den Standort bekommen hat, dagegen wehrt, und wenn sich eine benachbarte Region – anstatt sich glücklich zurücklehnen zu können – anschließend wiederum dagegen wehren muss, doch noch Endlagerregion zu werden: Wie werden sich darin die Kantone verhalten? Welche Interessenspartnerschaften könnten sich ergeben? Wie wird sich das Meinungsklima in der Öffentlichkeit entwickeln? Wird am Ende die derzeit offene Frage, wo die nuklearen Abfälle umverpackt werden sollen, eher zu Befriedungen beitragen oder eher Konflikte noch verschärfen?
Schließlich wird sich in dieser dritten Etappe der Schweizer Standortsuche auch der eingeschlagene Weg selbst zu bewähren haben. Kann die Suche sich tatsächlich als lernendes Verfahren er- und beweisen? Sind die tragenden Akteure in der Lage, in schwierigen Situationen kreativ zu sein und neue Lösungen vorzuschlagen und auszuhandeln? Oder wird auch in Konfliktfällen in vorgegebenen Spurrillen weiter gewandert, weil der Zeitplan drängt? Ist der Suchprozess als lernender gelingend, indem die Akteure ihn zu hinterfragen und zu Änderungen bereit sind (auch an sich selbst), so würden damit seine Ergebnisse, die Entscheidungen, die getroffen werden, letztlich an Qualität gewinnen.
Nicht wahr, das wäre aller Mühen wert!?
Es ist ein Experiment, an dem wir teilnehmen. Wie bei allen Experimenten ist der Ausgang offen. Spannende Zeiten stehen bevor, bis die Schweiz – Regierung, Parlament und Stimmvolk – über den oder die Endlagerstandorte final beschließen werden. Das dürfte um das Jahr 2030 herum geschehen. Die Würfel aber fallen schon jetzt.